Wenn ein Motorrad Mandello heißt, dann bietet es sich an, es auch in Mandello zu präsentieren. So geschah es vorige Woche. Das Fabrikgelände von Mandello del Lario in der Lombardei wählte Moto Guzzi als Ausgangspunkt für die Fahrvorstellung seiner V100 Mandello. Jener Maschine, die aus der Tradition heraus den Aufbruch in eine neue technische Ära einleiten soll. Vollgepackt mit Symbolik beginnt sie ihre Mission.

Seit 1921 wird jede Moto Guzzi in Mandello gefertigt. Das schwer in die Jahre gekommene Anwesen, dessen notwendige, immer wieder angekündigte Modernisierung seit Jahren ein Dauerthema darstellt, ist Produktions- und Kultstätte gleichermaßen. Die V100 Mandello trägt seinen Namen hinaus, die Zahl 100 erinnert an die ersten 100 Jahre der Firmengeschichte, die eine schillernde gewesen ist, gespickt mit Höhen und Tiefen.

Termin des 100. Geburtstags war der 15. März 2021. Bedauerlicherweise wurde das Zelebrieren des Jubiläums durch eine Pandemie zerzaust. Mit mehr als einem Jahr Verspätung wurden neulich Feierlichkeiten nachgeholt, was besser als nichts, aber natürlich nicht das Gleiche war. Und die V100 müsste nun genaugenommen V101 heißen.

Tut sie aber nicht. Sie soll ja zugleich den Aufbruch „in die nächsten 100 Jahre“ signalisieren, wie die Italiener ohne den Hauch eines erkennbaren Selbstzweifels verkünden. Mit der V100 wollen sie ein „vollkommen neues Kapitel“ aufschlagen. Dazu wird ein Motor in Dienst gestellt, wie es ihn noch nicht gab. Mit seinen beiden seitlich unterm Tank herausragenden Zylindern, wahrt er äußerlich die Kontinuität. Auch treibt er das Hinterrad traditionsgemäß über eine Kardanwelle an. Die allerdings befindet sich erstmals auf der linken Fahrzeugseite, integriert in eine lange Aluminium-Einarmschwinge, und auch sonst ist vieles anders. Die V100 beherrscht elektronische Zaubertricks, die schon woanders, bisher aber nicht bei Moto Guzzi zu bestaunen waren.

Mit dem frisch konstruierten V2 will das zum Piaggio-Konzern gehörende Unternehmen die Basis legen für künftige Modellfamilien: 115 PS und 105 Nm aus 1042 Kubikzentimeter Hubraum, erstmals Wasserkühlung, Nass- statt Trockenkupplung. Die Zylinderköpfe wurden um 90 Grad nach außen gedreht, zu erkennen daran, dass die Abgaskrümmer nicht nach vorn, sondern nach unten führen. Mehr Platz vor den Knien, geradlinige, strömungsgünstigere Ansaugkanäle zu den Brennräumen, insgesamt höhere Effizienz sind den Ingenieuren zufolge die gewünschten Effekte des Drehs.

Leise und sparsam sei der „Compact Block“ geworden, so genannt wegen der verblüffend geringen Länge und der insgesamt geringen Baumaße. Der Verbrauch nach WMTC-Norm wird mit 4,7 Liter Benzin auf 100 Kilometer angegeben. Mit der verfügbaren Leistung trifft das Triebwerk ziemlich genau den perfekten Punkt fürs Leben auf der Landstraße, nicht zu viel, nicht zu wenig. 82 Prozent des Drehmoments liefert es angeblich schon bei 3500 Umdrehungen, also Bullencharakter. Es schiebt, so der Eindruck während unserer ersten Probefahrt, von unten heraus mit sanfter, gleichmäßig zunehmender Vehemenz auf ein Plateau, imponiert durch Kultiviertheit, grollt sich mit angenehm tiefem Guzzi-Sound ins Herz. Erst spät, bei 9500/min, greift der Drehzahlbegrenzer ein. Wasserkühlung und Ausgleichswelle zum Trotz, ist der V2 eine urige Kante, wie man sie von Moto Guzzi erwartet. Er pocht und trommelt und freut sich des Bebens. Famoser Motor.

Die Vorderradbremse hat Supersport-Kaliber

Das Einlegen des ersten Gangs quittiert das Getriebe mit einem mächtigen Schlag, die Leerlaufsuche vollzieht sich hakelig, ansonsten schaltet es sich fein. Die betont schlanke Taille der Guzzi erlaubt innigen Kontakt. Aufrecht und entspannt fällt die Sitzhaltung hinterm hübschen, von einer aufwendig verzierten Klemmung fixierten Alu-Rohrlenker aus, leichtfüßig und problemlos das Handling. Die Vorderradbremse hat Supersport-Kaliber, hinten wird eher lustlos zugearbeitet.

Gut 100 Jahre nach Gründung der „Societá Anonima Moto Guzzi“, die sich den Adler mit ausgebreiteten Schwingen zum Markenzeichen nahm, fährt nun eine Moto Guzzi tatsächlich die Flügel aus. Elektronisch geregelt, öffnet und schließt das Motorrad seitlich des 17-Liter-Tanks montierte Luftleitklappen und reguliert somit den Fahrtwind, der den Fahrer trifft. Adaptives Aerodynamik-System nennt Moto Guzzi seine Neuheit, von der die Welt bisher gar nicht wusste, dass sie darauf gewartet hat.

Elektrisch verstellbarer Windschild

In Abhängigkeit vom gefahrenen Tempo und dem gewählten Fahrmodus – vier stehen zur Wahl – arbeiten diese Deflektoren unterschiedlich, öffnen und schließen früher oder später oder auch gar nicht. Die „Öffnungsschwelle“ lässt sich zudem auf eine andere Geschwindigkeit als die werkseitig vorgesehenen 70 km/h einstellen, und zwar in einer Spanne von 30 bis 95 km/h. Damit die elektrischen Klappen nicht überaktiv wackeln, wenn man mit Geschwindigkeiten um den eingestellten Wert herum fährt, reagieren sie mit einer gewissen Trägheit. Das funktioniert alles bestens, wenngleich der Windschutz-Effekt nicht überschätzt werden sollte. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist der elektrisch verstellbare Windschild.

Jedem Fahrmodus sind außerdem unterschiedliche Stufen der Leistungsentfaltung, des Eingriffs von Traktionskontrolle und Motorbremse zugeordnet. Auf Basis einer Sechsachsen-Sensorik vermag das ABS schräglagenabhängig zu regeln. All die Zutaten aus dem elektronischen Zauberkasten sowie Tempomat, Scheinwerfer mit Kurvenlichtfunktion mittels Zusatz-LED und Fünf-Zoll-Farbbildschirm zählen schon zur Grundausstattung der 233 Kilo wiegenden Basis-Mandello.

Die kostet 15.500 Euro. Wer 2500 Euro mehr investiert, bekommt die von uns bewegte S-Version. Deren Ausrüstung umfasst zusätzlich ein semiaktives Fahrwerk von Öhlins anstelle von Kayaba-Komponenten, die sich manuell verstellen lassen, darüber hinaus einen – noch unreif wirkenden – Schaltassistenten, der Gangwechsel ohne Kupplungsbetätigung ermöglicht, Griffheizung, Reifendruckkontrollsystem und Moto Guzzis Multimedia-Plattform zur Kopplung eines Smartphones per Bluetooth. Als Extras werden unter anderem Gepäckträger, Koffer und eine höhere Windschutzscheibe angeboten, womit die V100 den Bogen von der Sport- zur Reisewelt schlägt. Was fehlt, ist eine automatische Abschaltung der Blinker nach dem Abbiegen.

Die radikal neue Maschine hat sich das Charisma der Adlerträger vom Ufer des Comer Sees bewahrt, mit einem sympathischen Design, das sich kurzzeitigen Modeerscheinungen verweigert, auf plumpe Aggressivität verzichtet und auf Eigenständigkeit setzt. Der voluminöse Wasserkühler kann sich nicht unsichtbar machen, immerhin sind Schläuche und Kabel gut versteckt. Das Doppel-Rücklicht wirkt, als schaute man einem Düsenjäger von hinten in den Nachbrenner. Schlitze der Verkleidungen unterhalb der Sitzbank spielen auf die berühmte Le Mans 850 von 1976 an, die obere Verkleidung ist als Hommage an die Le Mans 850 III von 1981 gedacht. Und das LED-Tagfahrlicht vorn zeichnet die Silhouette des Adlers nach, den Carlo Guzzi und die Familie Parodi anno 1921 aus Verbundenheit mit italienischen Militärfliegern als Erkennungszeichen wählten. Nun winkt er sogar mit den Flügeln.